Inklusion ist das, was jeder will, aber keiner kann

Scharlatan inszeniert für 10-jähriges Jubiläum der UN-Behindertenrechtskonvention ein provokantes Theaterstück

Theaterinszenierung

Inklusion mit Theater-Scharlatan
Fotos: SJSK

»(K)ein Grund zum Feiern«

»10 Jahre UN-Behindertenrechtskonvention – (K)ein Grund zum Feiern«, hieß es in der Einladung zur Feierstunde am 26. März 2019. Die offiziellen Reden und Grußworte in der Hamburger Handelskammer wurden eingebettet in ein provokantes Theaterstück. Die Landesarbeitsgemeinschaft für behinderte Menschen e.V. (LAG) als Zusammenschluss von über 60 Betroffenen-Verbänden hatte zu diesem Zweck das Scharlatan Theater engagiert, um gemeinsam laut zu werden gegen einen etwaigen Feiermodus. Denn seit dem Beitritt zur UN-BRK ist nicht genug passiert.

Zum Sektausklang gab es dann auch treffend die Gläser nur zu 5% gefüllt – mehr war nicht drin. Die drastische Symbolik unterstrich die Dringlichkeit:  Nur 5% Menschenrechte sind erreicht. 95% der Menschenrechte warten darauf, eingehalten zu werden!

Plakate im Foyer informierten anhand vieler Fakten (10 von 984 Psychotherapeutischen Praxen sind barrierefrei etc.) und Fallbeispiele über diese Lücke zwischen Soll und Haben: »Es kommt vor, dass ich um 19 Uhr im Bett liegen muss, weil später keine Unterstützung mehr da ist«, ist nur ein Beispiel der zahlreichen Zitate.

Aufkleber mit Slogans, wie »Privatwirtschaft in die Pflicht!«, sorgten anstelle förmlicher Namensschilder für Austausch. Auch unter den Gästen wurden durch ein im Rahmen des Stückes angeleitetes »Speed-Dating« hoffentlich Barrieren überwunden – Vor allem die im Kopf!

Auch wir, das Team vom Scharlatan Theater mussten vom hohen Ross des »Das können wir!« heruntergeholt werden, um zu verstehen: Nicht wir, sondern die vielen tausend Menschen mit Behinderung, die sich in der LAG organisieren, wissen, was es heißt in Hamburg, in Deutschland, in Europa mit Behinderung zu leben.

Provokant, brillant, zutiefst berührend – ein Theaterstück wird zur Herzensangelegenheit

Provokant, brillant, zutiefst berührend – Das Stück im Format der »Orchesterprobe« ging letztendlich nicht nur tief unter die Haut, sondern legte den Finger auch knallhart in die Wunden. »Das Lachen blieb mir manchmal im Halse stecken«, schrieb uns Daniela Schremm, eine Zuschauerin und selbst Betroffene, »Super Umsetzung des Themas Inklusion!«. Und so war es auch gewollt.

Das Theaterstück sollte explizit auf die noch immer bestehenden Missstände aufmerksam machen, Tacheles reden, zum Nachdenken anregen, aber auch Mut machen, weiter für die Rechte von Menschen mit Behinderung zu kämpfen.

Der absolute Gänsehautmoment, für den es großen Applaus gab, war ein Lied, das die Problematik auf den Punkt brachte und gut wiedergibt, wie auch den AutorInnen vom Scharlatan Theater im Prozess der Stückentwicklung angesichts der politischen Situation immer wieder der Mund offen stehenblieb.

»Verdammt, das gibt es. Das gibt’s doch nicht. 
Verdammt, es braucht doch so viel nicht.
Verdammt, das will mir nicht in den Sinn,
Ich will, dass was passiert.«
(Auszug aus dem Refrain)

»In diese Inszenierung ist viel Herzblut geflossen«, sagt Michael Reffi, Regisseur und Autor des Stückes. »Der Auftrag entpuppte sich allerdings als Entwicklungsaufgabe fürs Leben«, ergänzt Co-Autorin Turid Müller.

Und tatsächlich: Die vielen Gespräche zur inhaltlichen Recherche, die Zusammenarbeit mit der LAG und die Herausforderung, Barrierefreiheit zu gewährleisten, lassen uns vom Scharlatan Theater nun mit einem anderen Blick durch die Welt gehen. Das wird sicher auch in unserem Arbeiten Spuren hinterlassen. Genau wie in unserem Leben, das durch viele spannende Begegnungen, Kontakte und Einblicke bereichert wurde.

Krönender Abschluss: Die Minotaurus Kompanie und der Gebärdenchor HandsUp erobern die Bühne

Zum krönenden Abschluss wurde eine Protestaktion von Menschen mit Behinderung inszeniert, die die Bühne stürmten: »Jetzt wird schon wieder nur ÜBER uns gesprochen!«, entrüsteten sich die aus dem Publikum auf die Bühne strömenden Schauspieler und Sänger des inklusiven Theaterensembles Minotaurus Kompanie und des Gebärdenchors »HandsUp«. Beide Gruppen inkludierten die Scharlatane (»Ihr macht mit. Sonst ist das ja nicht inklusiv!«, »Und ein Recht auf Inklusion hat schließlich jeder!«) und performten gemeinsam das mitreißende Finale.

Tosender Applaus sowohl der Mitarbeiter der LAG, inklusive Antje Darboven, Geschäftsführein der LAG und Ralph Raule, Vorsitzender der LAG als auch der zahlreichen anwesenden Menschen mit Behinderung und auch der prominenten Gäste aus der Politik wie Sozialsenatorin Melanie Leonhard (SPD) zeigten am Schluss die pure Begeisterung.

Bezeichnend, dass bei einer Veranstaltung, bei der offensichtlich wird, dass vieles in den Behindertenrechtskonvention von der Politik nicht ausreichend ernst genommen wird, Hamburgs zweite Bürgermeisterin, Katharina Fegebank, sich nur den Anfang der Veranstaltung zu Gemüte führt, kurz ihre sehr allgemein gehaltene Rede hält, um sich dann auch schon wieder mitten in der Vorstellung zu verabschieden. Ein Element, fast schon so grotesk, dass es vom Scharlatan Theater inszeniert hätte sein können. Aber diese Farce war tatsächlich bitterer Ernst. Und auch die Medien waren für dieses Thema nur sehr eingeschränkt zu begeistern.

»Ich persönlich fand es toll«, sagte Ralph Raule. Obgleich er sich ebenfalls fragte, ob die Botschaft bei den Behörden wirklich angekommen sei. Aber abgesehen davon, hätte das Stück für seinen Geschmack noch »eine ganze Stunde länger gehen können«. »Ich mag diesen Humor, auch den schwarzen Humor, diese Art des Vortragens vom Scharlatan Theater mit Ironie mit Witz.«

Wir vom Scharlatan Theater wünschen der LAG nach diesem Projekt mehr denn je von ganzem Herzen viel Erfolg, viel Mut und weiterhin solch eine Kraft, die UN-Behindertenrechtskonvention voran zu bringen!

Wir sind dabei! – Ihr auch?

 

 

Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung (UN-BRK) ist in der Bundesrepublik Deutschland im März 2009 mit dem Ziel in Kraft getreten, die Lebenssituation von Menschen mit Behinderung zu verändern. Sie soll allen Menschen gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen. Die UN-BRK wurde Ende 2006 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet und trat 2008 in Kraft. Inzwischen haben 177 Staaten die Konvention unterzeichnet.