Auf den Spuren moderner Führung: Michael Bandt erhält spannende Einblicke in hierarchiefreies Führungsmodell

Auf den Spuren moderner Führung: Michael Bandt erhält spannende Einblicke in hierarchiefreies Führungsmodell

Interview

2017_06_hierarchiefreie Fuehrung
Foto: SJSK

»Wir sind alle gleichberechtigt«

Leadership an Arthurs Tafelrunde – Michael Bandt, künstlerischer Leiter und Speaker am Scharlatan Theater, sprach im Zuge der Recherchen für seinen Vortrag »Hierarchiedesign®« mit Prof. Dr. Hartwig Huland, Chefarzt an der Martiniklinik, der weltweit erfolgreichsten Prostataklinik, und bekam erstaunliche Einblicke in agile Führung, die wir Ihnen nicht vorenthalten möchten. Viel Spaß bei dieser Lektüre:


Michael Bandt: Die Martiniklinik in Hamburg ist die größte und erfolgreichste Prostataklinik der Welt. Wie erklären sie sich den Erfolg?
Prof. Dr. Huland: Die Martiniklinik wurde vor 11 Jahren gegründet und ist heute in der Tat in unserem Sektor die weltgrößte Klinik mit 2300 Operationen im Jahr, das sind 10% aller solcher Operationen in Deutschland, einer Profitrate von 10% und einer Patientenzufriedenheit von 98 – 100%. Dafür gibt es hauptsächlich drei strukturelle Gründe: eine Spezialisierung, eine systematische Ergebniserfassung und das »Faculty-System«, sprich gleichberechtigte Führung.

Da alles miteinander zusammenhängt, erläutere ich diese Säulen kurz: Der erste Grund ist die Spezialisierung auf eine einzige Erkrankung nämlich das Prostatakarzinom und damit die Verwirklichung einer wichtigen Säule, des Zukunftsmodells »Value Based Healthcare«, einer neuen Initiative zur Änderung im Gesundheitswesen ausgehend von Harvard.

Um es in einem Bild zu erklären: Wenn Sie in ein Krankenhaus kommen, gibt es normalerweise mehrere Schilder: Chirurgie, Innere, Röntgen etc. Im Zukunftsmodell sieht man nur Schilder auf denen die spezielle Erkrankung steht. In unserem Fall: Prostatakrebs. Der Harvard Professor Michael Porter, der »Value Based Healthcare« initiiert hat, nennt es IPU: »Integrated Practice Unit«. Das haben wir mit der Martini-Klinik umgesetzt.

Das heißt, der Patient weiß sofort, dass er hier mit seiner Krankheit richtig ist und rundum versorgt wird…
Huland: Absolut. Der zweite Grund für unseren Erfolg ist unsere Datenbank über unsere Behandlungsergebnisse. Normalerweise, wenn ein Patient ein Krankenhaus verlässt – und das ist nicht nur in Deutschland ein Problem – wissen Kliniker nicht, wie es weitergeht, sie kennen ihre Ergebnisse nicht. Das ist so, weil die Nachsorge sehr gut in den Spezialpraxen erfolgt, zum Beispiel bei den Gynäkologen, Orthopäden etc. Das können und wollen wir auch gar nicht in den Kliniken. Und die wenigen Kliniken, die solche Ergebnisse erfassen, machen es nicht nach standardisierten Kriterien. Man muss eine Skalierung haben, die international validiert und anerkannt ist, um dann auch die Behandlungsergebnisse zwischen den Kliniken vergleichen zu können.

Wir machen dies seit 1992. Jeder, der hier mal behandelt wurde, wird Jahr für Jahr kontaktiert. Wir haben zum Beispiel in diesem Jahr Fragebögen an 24.000 Männer verschickt. Das ist nicht einfach zu implementieren. Man kann z.B. die Patienten nicht einfach einbestellen, um die Behandlungsergebnisse zu erfassen. Dann wären die Kollegen in den Praxen außen vor.

Das Zauberwort hier heißt: »PROM« – »Patient Reported Outcome Measurement«. Die Patienten werden per Mail oder Post regelmäßig mit standardisierten Fragebögen kontaktiert. Unsere Patienten kooperieren dabei sehr. Alles ist natürlich codiert und datengesichert. Es bedarf einer Investition. Die habe ich stückchenweise aufgebaut. Anfangs auch mit großzügiger Hilfe von Sponsoren. Normalerweise gibt es dafür in einem Krankenhaus kein Budget. Darum rümpfe ich auch nicht die Nase über die, die das nicht implementiert haben.

Dieses »Outcome Measurement« ist die Hauptsäule unseres Erfolges. Wir benutzen die Daten für die klinische Weiterentwicklung, Jahr für Jahr veröffentlichen wir etwa 60-70 Publikationen. Wir benutzen die Ergebnisdaten auch für die Patientenberatung, für die Grundlagenforschung und für die Qualitätskontrolle. Wir sind zehn Operateure. Alle halbe Jahre lassen wir uns von unserem Biostatistiker unsere persönlichen Ergebnisse demonstrieren. Dann sieht man z.B., dass einer auf einem Sektor besser ist und kann analysieren: Was macht der anders? Oder wir sehen, dass jemand auf einem anderen Sektor nicht ganz so gut ist. Dann operiert man zusammen und schaut, was man verbessern kann.

Ist das auch ein schmerzhafter Vorgang?
Huland: Nein, überhaupt nicht. Das bringt intellektuellen Spaß. Wir wollen ja gut sein. Diese Datenbank ist ein Goldschatz.

Und die dritte Säule, das »Faculty-System« beinhaltet die hierarchiefreie Führung?
Huland: Richtig, die dritte Säule ist das »Faculty-System«. Faculty heißt: Wir sind alle gleichberechtigt. Dadurch sind alle sehr erfahrene Operateure und Prostatakrebs-Spezialisten. Es gibt nur einen organisatorischen Leader, das ist offiziell der Direktor. Was die Behandlung anbelangt sind wir alle unabhängig und gleichberechtigt. Dadurch haben wir nur Operateure, die diese Operationen mindestens 1000 mal gemacht haben. Jeder einzelne Patient hat nur »seinen Doktor«. Das heißt, nur ich habe z.B. meinen Patienten begrüßt, beraten, operiert, und ich rufe direkt nach der Operation seine Ehefrau an, um ihr mit zu teilen, dass es ihm gut geht.

Ein weiterer Vorteil dieses Konzepts ist, dass sich in diesem kleinen Gebiet des Prostatakarzinoms jeder von uns noch mal wissenschaftlich subspezialisiert hat. Der eine in der Bildgebung, der andere ist der Spezialist in der Genomforschung ein anderer hat sich auf die vielen neuen Medikamente spezialisiert, auf die man zurückgreift, wenn nicht mehr operiert werden kann. So hat jeder von uns ein Spezialgebiet. Das bedeutet, wenn ich morgens in die Frühsitzung gehe, sitzen dort zehn anerkannte Experten. Ein fachliches Problem kann in dieser Expertenrunde präsentiert werden und jeder hört sich Expertenstimmen an und kann dann entscheiden.

Zusätzlich haben wir noch eine »Associated Faculty« d.h. für einige Themengebiete, wie z.B. in der Radiologie haben wir externe Experten mit der Spezialisierung auf das Prostatakarzinom, die wir bei Entscheidungen einbeziehen können.

Wie funktioniert das Zusammenspiel der zehn? Und könnte man es auch als Kompetenzhierarchie bezeichnen? Das heißt: immer wenn es um sein Kompetenzfeld geht, rückt man in diesem Gebiet in die erste Reihe?
Huland: Sicher, aber das ergibt sich automatisch, wenn die zehn sich verstehen. Und dazu ist etwas, was man nicht messen kann wichtig: Eine Umgangskultur, oder ein Codex, zu dem wir uns alle bekannt haben. Nach jeder Operation, das machen auch andere aber das ist nicht Standard – rufen wir sofort die Anverwandten an, noch im OP Saal. Das ist nur ein Beispiel. Dazu gehört zum Beispiel auch dass wir allein Visite machen, dass man sich hinsetzt, wenn kritische Dinge dem Patienten mitgeteilt werden müssen usw.

Lassen Sie mich noch einmal auf das »Faculty System« zurück kommen. Wie kommen diese 10 Führungskräfte zusammen? Wie sucht man sie aus und vor allem WER sucht sie aus?
Huland: Angefangen haben wir damit, dass die ersten Fünf alle aus meiner Klinik kamen, das waren alle ehemalige Oberärzte, die sich in meinem Umfeld wohl gefühlt haben.

Wenn jemand signalisiert hat, er würde gerne bei uns sein, haben wir ein Zweistufensystem verfolgt. Wenn jemand neu zu uns kommt, nennen wir ihn zunächst »Junior Faculty«. Nach zwei oder drei Jahren Zusammenarbeit, beschließen wir dann gemeinsam, ob er endgültig bleibt. In Amerika gibt’s das Prinzip schon lange.

Und ist das dann wirklich so, dass die Zehn gemeinsam entscheiden? Wie die Tafelrunde von Arthur?
Huland: Ja, auf jeden Fall. In Amerika ist das üblich. Da gibt es den »Associated Assistant Professor«.

Wie sieht die Übertragbarkeit aus? Könnte man das System hier übertragen?
Huland: Das ist schwierig. Wenn einer Chef geworden ist, ist das ja ein langer und schwieriger Weg. Das Chefarztsystem hat zudem bei uns eine große Tradition und auch viele Vorteile. Was Sie von unserer Struktur leichter übertragen können, ist die Spezialisierung und die Outcome Datenbank. Das Thema »Faculty« in Deutschland zu übertragen ist meiner Meinung nach unmöglich. Wir haben eine andere Tradition, die ich geändert habe.

Trotzdem, wie ließe sich so etwas in die Wirtschaft übertragen, wie könnten die Hierarchien aufgebrochen werden?
Huland: Es würde schon einen Fortschritt geben, wenn man die beiden anderen Komponenten – Spezialisierung und Datenbank – implementieren würde. Wenn man die integriert hat, bedeutet das einen ständigen intellektuellen Stimulus. Auch die Tatsache, dass in Besprechungen Experten sitzen. Dann ist es hochinteressant und macht Spaß, wenn morgens verschiedene Fälle vorgestellt werden. Ein Beispiel: Wenn wir uns fragen, ist es jetzt sinnvoll bei einer komplizierten Situation neben der Operation auch eine Bestrahlung anzuschließen, dann wird die Datenbank mit ähnlichen Fällen ausgewertet und vier Wochen später haben wir unsere eigenen Daten und haben eine ganz andere Entscheidungsgrundlage.

Gibt es Situationen, wo Sie im »Faculty-System« persönlich an ihre Grenzen geraten, wo Sie das Gefühl haben, jetzt ist doch mal der eine Leader gefragt?
Huland: Es hat sicher auch schon mal Konflikte gegeben, aber das hat sich immer durch persönliche Gespräche geklärt. Vorraussetzung ist, dass man sich menschlich versteht und dass man bestimmte Bereiche pflegt, wie Wertschätzung, Kritikfähigkeit, Umgangskultur, Vertrauenskultur. Wiederum Dinge, die man so nicht messen kann, die aber nicht nur bei uns, sondern überall gefragt sind und gelebt werden.

 

Vielen Dank für das  interessante Gespräch.

 

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Scharlatan
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